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29.05.2019

100 Tage bis zur Einschulung: Was bedeutet eigentlich Schulreife?

Kita-Leiterin Alexandra Weingart Kindergarten und Hort St. Rupert Gerolfing (Mitte), Kita-Leiterin Vera Sebald Kindergarten St. Augustin (rechts) und Susanne Hehnen, pädagogische Trägervertretung der Kath. Kita-GmbH im Gespräch. Foto: Kath. Kita IN gGmbH/Schödl

Kita-Leiterin Alexandra Weingart Kindergarten und Hort St. Rupert Gerolfing (Mitte), Kita-Leiterin Vera Sebald Kindergarten St. Augustin (rechts) und Susanne Hehnen, pädagogische Trägervertretung der Kath. Kita-GmbH im Gespräch. Foto: Kath. Kita IN gGmbH/Schödl

Am 2. Juni beginnen die letzten 100 Tage vor Schulbeginn. Für die Eltern der diesjährigen Vorschulkinder geht es nun in die konkreten Vorbereitungen: Schultasche, Schulsachen und Schultüten werden gekauft, denn ist die wichtigste Frage inzwischen beantwortet: „Ist unser Kind schon reif für die Schule?“

Ein Gespräch mit Pädagoginnen der Katholischen Kita Ingolstadt gGmbH

Korridorkinder

In diesem Jahr war die Entscheidung nicht so leicht zu treffen. Früher galt für bayerische Kinder: Wer vor dem 30. September geboren ist, muss in die Schule. Wollten Eltern eine Rückstellung ihrer Abc-Schützen erreichen, mussten sie einen entsprechenden Antrag stellen. Über diesen entschied die Schulleitung nach einem Eignungstest. Für die Eltern war dies eine nervenaufreibende Zeit. „Wir wussten zwar, dass unsere Tochter noch viel zu verspielt für die Schule ist“, erinnert sich Diana Kirschenbauer, „aber wir wussten nicht, ob die Schulleitung der gleichen Meinung ist.“ Dann veröffentlichte Bayerns Kultusminister Michael Piazolo im Februar 2019 die neue Regelung bei der Einschulung: Ab heuer zählt bei den sogenannten Korridorkindern - also Kindern, die zwischen Juli und September geboren wurden - allein der Elternwille über die Einschulung. Für Familie Kirschenbauer vereinfachte sich damit das Verfahren. Für die Eltern der rund 30.000 Korridor-Kinder in Bayern stellte sich aber plötzlich die Frage: „Ist mein Kind eigentlich fit für die Schule?“


Verunsicherung

„Bei vielen löste dies eine Verunsicherung aus“, meint Alexandra Weingart, Leiterin des katholischen Kindergartens St. Rupert in Gerolfing. „Denn Dinge, die vorher ganz klar waren – wie ‚mein Kind geht in die Schule oder geht nicht in die Schule‘ – wurden neu überdacht.“ Die Eltern hatten großen Rede- und Beratungsbedarf. Kindertagesstätten, Schulen und Erziehungs­beratungs­stellen boten und bieten hier kompetente Hilfe an. Auch die Kleinen wurden von dieser zeitweiligen Ungewissheit überrascht, weiß Weingart. Seit Beginn des Kita-Jahres waren sie die Großen in der Einrichtung. Als Vorschulkinder sahen sie sich in einer besonderen Verantwortung, übernahmen wichtige Aufgaben und belegten zum Teil spezielle Kurse. „Plötzlich mussten sie erleben: Meine Eltern überlegen es sich und vielleicht bin ich jetzt doch kein Vorschulkind mehr.“ Mit ihrer Schulreife war auch ihre Selbstsicherheit infrage gestellt.

Schulreife – Schulfähigkeit

„Wir sprechen eigentlich nicht mehr von Schulreife, sondern von Schulfähigkeit“, meint Vera Sebald, die Leiterin des Katholischen Kindergartens St. Augustin in Ingolstadt. Früher habe man stärker auf die körperliche Entwicklung eines Kindes geschaut, heute mehr auf die sozialen und emotionalen Fähigkeiten.“ Dazu zählen beispielsweise Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Selbstständigkeit. „Kinder sollen mutig sein und sich mit ihren Ideen einbringen können“, weiß die Kindergartenleiterin. Außerdem ist ein gutes Sozialverhalten gefragt: „Sie müssen sich in einer Gruppe zurechtfinden können - durchsetzen, aber auch anpassen können.“ Genauso wichtig aber sind gewisse Arbeitshaltungen. „Die Kinder sollten Ausdauer, Durchhaltevermögen und die Fähigkeit besitzen, sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren“, weiß die Kindergartenleiterin. Auch Basiswissen ist gefragt. Deshalb bieten viele Kitas für die künftigen Abc-Schützen spezielle Angebote an. Arbeitskreise wie das „Zahlenland“ oder der „Vorschulclub“ fördern das Wissen und unterstützen damit die Kinder beim Übergang in die Schule.

Unterschiedliche Systeme

Gerade auf diese Arbeitshaltungen legen die Schulen viel Wert. Auch gute Feinmotorik und solide Sprachkenntnisse sind für die Schulen wichtig. „Beim Übergang der Kinder in die erste Klasse stoßen zwei Systeme aufeinander“, meint Susanne Hehnen, die pädagogische Trägervertretung der Katholischen Kindertagesstätten Ingolstadt gGmbH (Kita Ingolstadt gGmbH). In den Kindertageseinrichtungen habe sich ein Wandel in der Schulvorbereitung vollzogen. Es gehe nicht mehr darum, den Kindern klassisch Wissen zu erlernen, sondern vor allem die Persönlichkeit zu entwickeln. Letztlich drehe sich alles um die Frage: „Welche Bildung brauchen Kinder, um ein gelungenes Leben zu leben?“ Schule, Kindertageseinrichtungen und Eltern beantworten sie durchaus unterschiedlich, meint Hehnen. Nach der aktuellen Pädagogik der Kitas sollen Kinder die Fähigkeit erhalten, eigenständig ihre Interessensgebiete zu verfolgen, und Fragen darüber zu beantworten. „Damit erfahren sich Kinder als selbsttätig, kompetent und erfolgreich“, meint Hehnen. Im System Schule dagegen werde viel kurzfristig erlerntes Wissen abgefragt. „Da Zertifikate und Abschlüsse in unserer Gesellschaft aber einen wichtigen Stellenwert besitzen, verspüren Eltern natürlich den Druck, dass ihre Kinder auch gut durch die Schule kommen.“

Übergang erleichtern

Wichtig sei es deshalb, die Übergänge gut zu begleiten. Ähnlich wie im Kindergarten St. Rupert halten viele Kitas eine gute Kooperation mit der Grundschule. Drei bis vier Mal besuchen die künftigen Abc-Schützen das Schulhaus, um die Örtlichkeiten kennenzulernen. Außerdem kommen Grundschüler zu Vorlesenachmittagen in die Kita. „Das nimmt die Angst und bringt die Vorschulkinder in eine Freude hinein, bald in die erste Klasse zu gehen.“  
Für die Eltern der nächstjährigen Korridorkinder wird die Entscheidung über den Schuleintritt nicht leichter. Zwar müssen sie den Schulen erst Anfang Mai definitiv Bescheid geben, aber ihre Kinder befinden sich mit dem Beginn des vermeintlich letzten Kindergartenjahrs – also im September - in der besonderen Rolle eines Vorschulkinds. „Es ist nicht zu unterschätzen, welche Entwicklung die Kleinen in drei bis vier Monaten machen können“, meint Kindergartenleiterin Alexandra Weingart. „Manche sind im September noch ganz verspielt und entwickeln sich bis ins Frühjahr zum echten Vorschulkind“. Eine Herausforderung ist für Weingart deshalb die Aufgabe der Kindertages­einrichtungen: „Wie gehen wir mit der Enttäuschung derjenigen um, die unerwartet zurückgestellt werden?“ „Es gibt natürlich Kinder, die zurecht ein Jahr warten“, bestätigt die Kindergartenleiterin Sebald. „Aber es ist schade, wenn es zu einer Rückstellung kommt, obwohl das Kind bereit und motiviert ist, in die Schule zu gehen.“

Zu diesem Thema gibt es auch einen Hörfunkbeitrag von Radio K1